Wenn es um hochaktuelle und topmoderne Themen geht, hat es der Übersetzer oft nicht leicht: Begrifflichkeiten werden von Interessengruppen neu geprägt oder verändern sich mehrmals, verschiedene Technologien kämpfen darum, de facto oder de jure Standard zu werden und Marketingabteilungen erfinden für alles, was F&E auf den Tisch legen, gleich drei fancy klingende Begriffe. Quo vadis, Industrie 4.0?
« Industrie 4.0 » ist zunächst einmal eine Technologie-Initiative der deutschen Bundesregierung, genauer, des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie (BMWi) und des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, die zusammen mit Interessenten aus der deutschen Wirtschaft vorangetrieben wird. Der Begriff basiert auf dem Gedanken, es gebe nach der Dampfkraft, der Fließbandproduktion und der IT-getriebenen Automatisierung eine vierte industrielle Revolution, die von vernetzten « intelligenten » Produktionsmaschinen ausgeht und die Massenproduktion in eine individualisierte Massen-Einzelfertigung überführt – angesichts der immer stärkeren Verbreitung von z.B. 3D-Druckern sicherlich nicht von der Hand zu weisen.
Industrie 4.0 weckt einerseits viel Enthusiasmus und Aufbruchstimmung, steht andererseits aber auch in der Kritik (ebenfalls im gerade verlinkten ingenieurversteher-Blog, aber auch in der Wikipedia oder bei theeuropean.de), nicht zuletzt, weil die BRD erstaunlich oft demonstriert, wie gerne Deutschland alles überreguliert und wie wenig unsere Regierung das « Neuland » versteht – dabei soll gerade das Internet doch die grundlegende Basis der « Industrie 4.0 » sein, die neben vielen neuen Arbeitsplätzen (oder doch Arbeitsplatzverlusten?) und individualisierten Massenprodukten insbesondere auch die Arbeits-, Material- und Energieeffizienz von Produktionsprozessen verbessern soll. Auch ist nicht allen klar, inwiefern Industrie 4.0 kein lauwarmer Aufguss von Computer Integrated Manufacturing (CIM) aus den frühen 70ern (!) ist. (Edit 2015-10-27:) Außerdem hat der Begriff laut einer aktuellen Studie des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW; News z.B. bei netzoekonom.de und direkt bei FOCUS.de als Kurzmeldung mit Verweis auf Heft 44/2015) auch bei deutschen Unternehmen noch zu wenig Bekanntheit (18%).
Über Sinn und Unsinn der Initiative oder des Begriffs will ich hier aber nicht streiten, denn es wird sich noch zeigen, wie « virulent » (aus linguistischer Sicht) und « zielführend » (aus wirtschaftlicher Sicht) er auf lange Sicht ist – sondern über ein aktuelles übersetzerisches Problem: « Industrie 4.0 » ist derzeit ein grundsätzlich deutscher Begriff, der bisher nur begrenzte internationale Strahlkraft besitzt. Hier eine Erklärung, die frei der des BMWi folgt:
Industrie 4.0 — Die « Vierte Industrielle Revolution » (Industrie 4.0) wird durch die Verschmelzung von industrieller Produktion und moderner Informations- und Kommunikationstechnik in der « intelligenten Fabrik » (engl. smart factory) herbeigeführt. Auf der Basis von über Unternehmensgrenzen hinweg vernetzten intelligenten Maschinen, Produkten und Dienstleistungen (cyber-physische Systeme, die über das Internet der Dinge kommunizieren) entstehen Produktions- und Logistikprozesse, die aufgrund individueller menschlicher Entscheidungen eine « Massenfertigung auf Maß » ermöglichen sollen. Die « intelligente Wertschöpfungskette » soll dann möglichst jedes Produkt mit einem Ökosystem « intelligenter » Dienstleistungen umgeben. Gleichzeitig soll durch die sofortige und automatisierte Reaktion auf externe Faktoren der Einkauf optimiert und die Produktion ressourcen- und energiesparender werden. Die Bundesinitiative Industrie 4.0 hat die Aufgabe, Schnittstellen, Standards und Best Practices zu schaffen und gesellschaftliche Aspekte zu steuern, z.B. in Bezug auf Ausbildung und Arbeitsplätze. Industrie 4.0 umfasst also technologische und gesellschaftliche Aspekte.
Immer mehr deutsche Mittelständler greifen den Begriff auf und nutzen ihn für Marketingzwecke. Jedoch entsteht für ihre Übersetzer das Problem, dass sie nicht einfach « Industry 4.0 » in einen englischen oder « Industrie 4.0 » in einen französischen Text schreiben und erwarten können, dass ausländische Leser ihn ohne Fußnote verstehen.
Ausländische Parallelen oder Ersatzbegriffe sind wiederum deutschen Marketingabteilungen nur schwer zu vermitteln, weil sie – teils zu recht – als unpassend oder unpräzise wahrgenommen werden. Ja, Industrie 4.0 ist mehr als « blos » smart manufacturing, cyber-physical systems, big data, internet of things etc. – er hat zu all diesen technischen Unterbegriffen eine gesellschaftlich-politische Dimension, die ausländischen Begriffen teils fehlt.
USA/UK: Smart Manufacturing oder Industrial Internet of Things (IIoT)?
« Industry four-oh? What’s that? » In den USA und selbst im nahen Großbritannien gibt es neben dem älteren CIM (siehe oben) mehrere aktuelle Buzzwords mit Bezug auf IT-gesteuerte hochflexible Produktionsanlagen, darunter das sehr viel allgemeinere Internet of Things (IoT), das Industrial Internet (das seit 2014 mit dem Industrial Internet Consortium eine eigene Initiative ist) und vor allem der Begriff des smart manufacturing, der von der konkurrierenden Initiative Smart Manufacturing Leadership Coalition (SMLC) gefördert wird (vgl. auch « Frost&Sullivan: Internet of Things and Smart Manufacturing » oder der Umstand, dass auch Siemens die unterschiedlichen Begrifflichkeiten anerkennt). Auch cyber-physical systems (CPS) sind Teil dieses Begriffskomplexes, beziehen sich aber auf konkrete computergesteuerte und vernetzte Anlagen, die über das IoT kommunizieren, während die anderen Begriffe IoT-Netzwerke aus mehreren CPS und anderen vernetzten Komponenten und Services umfassen. Dennoch ist die adjektivische Präzisierung « industrial internet of things (IIoT) » in vielen Fällen ein guter und verständlicher Termkandidat.
Im allgemeinen Sprachgebrauch ist smart manufacturing – auch dank weithin bekannter « smarter » Begriffe wie smart phone, smart home und smart appliance – sicherlich der verbreitetste Begriff für eine vernetzte und hochgradig automatisierte Industrie: Bing, das mit loc:US eine Filterung nach Regionalcode erlaubt (was Google nicht mehr kann; für die USA ist das zum Filtern aber besser als die weltweit beliebten US-Domains .com, .org, .net, …) listet für « smart manufacturing » (mit Anführungszeichen) 225.000 Einträge (Google.: 250.000), wovon alleine auf die USA 138.000 entfallen, während für UK vernachlässigbare 20 Treffer (Google mit site:co.uk : 1.680) erzielt werden – dafür haben .co.uk-Domains bei Google immerhin knapp 40.000 Treffer für « industrial internet of things » in Google (in Bing mit loc:UK nur 20 gegenüber den 234.000 mit loc:US!). Zumindest, was .co.uk-Einträge auf Google angeht, kann man also sagen, dass « IIoT » 30x mehr Ergebnisse ausspuckt als « smart manufacturing ».
Auffällig an den Suchergebnissen ist, dass das Thema bei den Briten noch nicht so richtig im Web angekommen zu sein schein, denn viele UK-Treffer in den ersten 5 Seiten sind Webpräsenzen von US- oder deutschen Firmen in Großbritannien, wobei letztere dann auch häufig « Industrie 4.0 » mitverwenden. Dabei verfügt Großbritannien wie andere EU-Staaten mit dem High Value Manufacturing Catapult (HVM; eines von fünf politschen « Katapulten » zur Stärkung der Wirtschaft) über eine staatliche Initiative zur Förderung der industriellen Entwicklung in Richtung « advanced manufacturing ». Die Briten definieren dies so:
High value manufacturing is the application of leading-edge technical knowledge and expertise to the creation of products, production processes, and associate services which have strong potential to bring sustainable growth and high economic value to the UK.
HVM zielt also im Gegensatz zu Industrie 4.0 nicht genau auf vernetzte, selbststeuernde Industrieanlagen, Produkte und Services. Vielmehr steht der Nutzen (Wachstum + wirtschaftlicher Wert) im Vordergrund, also auch Technologien, die mit dem Kernanliegen der deutschen und französischen (s.u.) Initiativen nichts zu tun haben, wie etwa Extrudierungsverfahren oder Anwendungen der Materialwissenschaften. Von 7 HVM Centres – also durch das HVM Catapult geförderte Joint Ventures – ist lediglich das « Machining Technology Centre (MTC) » der Unis Birmingham, Loughborough und Nottingham sowie deren Industriepartnern mit Automatisierungstechnologien beschäftigt. Immerhin ist sich die Britische Regierung des Industrie 4.0-Begriffs (« Industry 4.0« ) durchaus bewusst und hat im Februar 2015 ein eigenes Förderprogramm in dieser Richtung aufgelegt (PDF: « Strengthening UK manufacturing supply chains. An action plan for government and industry. »). Dennoch bleibt I4.0 zunächst eine eher in Fachkreisen bekannte deutsche Begrifflichkeit, wie noch ein Wired-Artikel vom Mai 2015 mit dem bezeichnenden Titel « A ‘fourth industrial revolution’ is about to begin (in Germany) » zeigt – und wie der oben zitierte netzoekonom-Artikel richtig anmerkt, ist die thematische Beschränkung auf Industrie 4.0 « missverständlich », weil der Begriff selbst Branchen außerhalb der produzierenden Industrie ausschließt, obwohl sie von der Initiative genauso angesprochen werden sollen. Daher muss man sich fragen, ob beispielsweise Siemens mit seinen « data-driven services » nicht einen offener gedachten Begriff geprägt hat, der besser in der Lage wäre, mit IIoT zu konkurrieren und den Fokus nicht auf die vernetzten Maschinen zu legen, sondern auf das Ökosystem der Dienstleistungen um ein Produkt herum.
I would love to see some native speaker feedback on the usage of these terms for all variants of English – en-US, en-UK, en-AUS, en-IN, … feel free to comment!
Frankreich: usine intelligente, usine du futur oder doch industrie 4.0?
Die aus deutscher Sicht gute Nachricht ist: « Industrie 4.0 » hat es über den Rhein geschafft, auch wenn noch häufig auf den deutschen Ursprung des Begriffs verwiesen wird (« l’usine du futur du plan allemand ») und die Kernträger europäische Multis wie EADS oder Airbus sind: « L’Allemagne apparaît particulièrement en pointe. » lässt etwa europe1.fr verlauten (vgl. auch den Ländervergleich vom März 2015).
Dabei hat Frankreich eigene High-Tech-Initiativen. Dennoch ist die 2013 auf den Weg gebrachte französische Initiative « usine du futur » seit April 2015 schon wieder überholt: Präsident François Hollande will der französischen Hightech-Initiative Nouvelle France industrielle mit dem neuen Programm « industrie du futur » eine breitere Basis geben, französische Interessen stärker in die internationale Normierung einbringen und insbesondere französische KMU (PME; petites et moyennes entreprises) auf breiterer Front erreichen: Am 18.5.2015 verkündete das Wirtschaftsministerium stolz die Gründung der Alliance pour l’industrie du futur (smart-industries.fr). Man wird sehen, ob das etwas ins Hintertreffen geratene Frankreich eine Aufholjagd beginnen kann.
Ein Hinweis darauf, dass « industrie 4.0 » von Franzosen angenommen wird, könnte darin bestehen, dass der Begriff nicht mehr generell groß geschrieben wird (Eigenname), sondern in vermehrt in Kleinschreibung (allgemeiner Begriff) verwendet wird. « Moderne » Franzosen werden hingegen – wie auch in Bezug auf WWW-Begriffe geschehen – gerne englische Begriffe verwenden und die « usine intelligente » als « smart-factory » (mit Bindestrich!) bezeichnen, was im Kontext amtlicher Sprache wiederum nicht gerne gesehen wird.
Ich gehe davon aus, dass man von konkreten Produktionsstätten zunächst weiterhin als « usine intelligente » sprechen wird, während der breitere technische Kontext von « industrie du futur » und der sozialpolitische Kontext langfristig von « industrie 4.0 » abgedeckt werden wird.
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Fazit
Die Begrifflichkeiten um die schöne neue Welt der vernetzten, vollautomatisierten und selbststeuernden Fertigung bleiben im Fluss und werden im Wesentlichen von nationalen Initiativen geprägt. Dennoch kann man festhalten, dass zumindest im europäischen Ausland Deutschland als Vorreiter gesehen wird und andere Staaten den « Industrie 4.0 »-Begriff teilweise aufnehmen, ohne, dass er bisher über das interessierte Publikum – besonders in den IT- und Automotive-Branchen – hinaus große Relevanz erhalten hätte. Bei der Übersetzung von Dokumenten, die auf « Industrie 4.0 » Bezug nehmen, kann also eine naturalisierte Schreibung (EN: « Industry 4.0 », FR: « industrie 4.0 ») verwendet werden, aber eine Erklärung der Begrifflichkeit – falls sie sich nicht durch den Kontext klar ergibt – ist weiterhin angebracht, z.B. in Form einer eigenen « Was ist Industrie 4.0 »-Seite, der Ausbringung von Links auf entsprechende Onlinequellen oder einer Fuß- oder Randnote.
Dabei bezieht sich I4.0 weitgehend auf das übergeordnete und abstrakte Thema der vernetzten Automatisierung und ihrer Folgen, während andere Begriffe wie « smart factory » oder « usine intelligente » die konkreten Produktionsstätten bezeichnen werden.
Zum Schluss noch zwei Quellenhinweise: Die Präsentation von Dr. Fischer von der FCT AG für die tekom-Tagung 2014: « DITA – Informationsstruktur für den Maschinenbau und Industrie 4.0 ? (PDF) » bietet auf den Seiten 4-10 einen knackigen Überblick darüber, was « Industrie 4.0 » bedeutet. Die Austrian Marshall Plan Foundation hingegen hat im Januar 2015 eine Vergleichsanalyse zum Stand von « Industry 4.0 – A Comparison of the Status in Europe and the USA (PDF) » herausgegeben.
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