Was heißt denn hier Qualität?

Was heißt denn hier Qualität?

[toc]Es ist mal wieder soweit: In der XING Übersetzer-Lounge ist ein weiterer Thread um die Qualität von Übersetzungen entstanden. Neben den unvermeidlichen Klagen, dass “den Kunden” die Qualität egal sei oder dass die Qualität von Übersetzungen ohnehin nur von Fachleuten (= Übersetzern) angemessen beurteilt werden könne, etc.pp. ad nauseam, sind einige Aspekte genannt worden, wie unsere Kunden die Übersetzungsqualität einschätzen sollen, wenn sie eine der beteiligten Sprachen nicht (ausreichend) beherrschen.

Das magische Dreieck △

Aus dem Projektmanagement kennen viele das “Magische Dreieck” aus Qualität, Zeit und Geld. Wenn man eine der Variablen verändert, hat das automatisch Auswirkungen auf die beiden anderen:

  • Solide, geprüfte Arbeit (Qualität), auf die ein Kunde warten kann (Zeit), ist zu vernünftigen Preisen (Geld) zu haben, weil der Übersetzer zum Beispiel andere Aufträge nicht ablehnen muss.
  • Gute Arbeit (Qualität), die noch gestern fertig sein muss (Zeit), wird teurer, weil sie andere Aufträge ausschließt und die Nachtschicht des Übersetzers / einbezogene Kollegen bezahlt werden müssen (Geld).
  • Eine Rohübersetzung zum eigenen Verständnis (Qualität), die man aber schnell benötigt (Zeit), kann günstig zu haben sein (Geld), weil der Übersetzer nicht sprachlich an ihr feilen muss und das Korrekturlesen wegfällt.
  • Umgekehrt: Eine nur spärlich bezahlte (Geld), aber trotzdem eilige (Zeit) Übersetzung wird selten gut (Qualität). Und so weiter.

Übersetzungen sind in dieser Hinsicht nicht anders als andere Projekte. Von Kunde zu Kunde und von Übersetzung zu Übersetzung werden die Prioritäten anders liegen.

Wie definiert sich Qualität?

Qualität, sagt der Duden, sei die Beschaffenheit oder eine Eigenschaft oder ein Merkmal einer Sache oder Person, womit oft insbesondere eine gute Beschaffenheit oder Eigenschaft gemeint sei, die auch Güte genannt wird und oft ihren Wert beschreibt (“qualitativ hochwertig”).

Schon wenn wir “Wert” hören, sind wir gedanklich ganz schnell wieder bei Euro- oder Dollarzeichen. Dazu hat Herr Schlenkhoff im 11. Post des oben genannten Forenthreads in einer unscheinbaren Zwischenbemerkung einen sehr wichtigen Aspekt genannt: Wichtig ist hier, zu wissen, worauf es dem individuellen Kunden wirklich ankommt. Qualität liegt also zumindest teilweise im Auge des Betrachters. Eine Kollokation zu Wert ist, dass Wert beigemessen wird. Der Kunde kann mit einer Übersetzung mehr als zufrieden sein, die den Ansprüchen des Übersetzers nicht genügt, oder umgekehrt. Bei allen Veröffentlichungen spielen sogar die Maßstäbe von Dritten eine Rolle, deren Urteil das Urteil des Kunden und des Übersetzers verändern kann. Wie Herr Scognamiglio im 14. Post so schön den Management-Guru Philip B. Crosby aus dem Wikipedia-Artikel zu Qualität zitiert: Quality is conformance to requirements.

Herr Schlenkhoff hat darüber hinaus eine interessante Unterscheidung aufgemacht: Die zwischen Prozessqualität (wie schnell, zuverlässig und organisiert arbeitet der Übersetzer, wie gut ist seine Kommunikation mit dem Kunden, wie verbindlich seine Aussagen) und Ergebnisqualität (wie sehr entspricht die Übersetzungen den an sie gestellten Erwartungen: Ist sie vollständig? Ist sie fehlerfrei in Bezug auf Grammatik, Orthografie, Interpunktion, Stil, Formalia, etc.? Wird sie im vereinbarten Format geliefert?).

Vorsicht: Die Haftung für Mängel an der Übersetzung beinhaltet das Recht auf 2 Versuche der Nachbesserung durch den ursprünglichen Übersetzer (§437ff. BGB). Für Änderungen oder Korrekturen durch den Kunden oder durch Dritte ist er ansonsten nicht haftbar.

Einige dieser Qualitäten lassen sich gut vom Auftraggeber einschätzen, insbesondere die Schnelligkeit und Zuverlässigkeit der Lieferung und die Kommunikation mit dem Übersetzer sowie die korrekte Lieferform. Bei der Beurteilung der eigentlichen Leistung, der Ergebnisqualität, kann er zumindest die Einhaltung der Stilvorgaben, die Optik (DTP) und die Einhaltung von Formalia prüfen. Zweifelt er an der Vollständigkeit und Korrektheit des übersetzten Textes, muss er sich unter Umständen auf die Aussagen von Mitarbeitern oder Kunden verlassen oder einen zweiten Übersetzer mit einem Gutachten beauftragen.

In den genannten Messpunkten und vielen weiteren ist es menschlich, Fehler zu machen. Dennoch kann man sich Ziele setzen. Crosbys Ziel waren exakt Null Fehler, wobei er es als die Aufgabe des Managements ansah, die Bedingungen dafür zu schaffen, dass Fehler weitestgehend ausgeschlossen werden können.

Null Fehler mit dem 4-Augen-Prinzip?

Eine Ausprägung von Crosbys Forderung, alles dafür zu tun, dass die Null-Fehler-Schwelle erreicht wird, hat sich bei Übersetzungen im sogenannten 4-Augen-Prinzip niedergeschlagen, das auch in anderen Branchen verbreitet ist. Die aktuelle Norm DIN EN 15038 Übersetzungsdienstleistungen, die sich an “Sprachdienstleister” (also nicht Übersetzer, sondern Zwischenhändler wie Übersetzungsagenturen) richtet, schreibt seit 2006 das 4-Augen-Prinzip sogar fest. Warum das problematisch ist, wurde im MDÜ, der Verbandszeitschrift des Bundesverbands der Dolmetscher und Übersetzer e.V. (BDÜ) schon mehrfach aufgegriffen, zum Beispiel in diesem Leserbrief (PDF) oder im MDÜ-Artikel von Valerij Tomarenko, der [edit: leider nicht mehr online verfügbar] ist.

Übersetzer arbeiten zu 90% freiberuflich. Daraus folgt, dass sie für die Kontrolle in der Regel nicht auf andere Angestellte derselben Firmenstruktur zurückgreifen können. Sie müssen für die Anwendung des 4-Augen-Prinzips kompetente Personen aus ihrem Netzwerk hinzuziehen. Diesen müssen sie das Übersetzungslektorat vergüten. Kunden zahlen also in aller Regel einen Aufpreis dafür, dass ein zweiter Übersetzer mit entsprechendem Fachgebiet oder auch ein Experte (z.B. ein Ingenieur, Arzt, Anwalt, …) die Übersetzung mit dem Original gegenliest und prüft, ob alle Inhalte vollständig und richtig wiedergegeben wurden.

Agenturen, die ja mehrere Angestellte haben, werben oft mit der DIN EN 15038 und dem enthaltenen 4-Augen-Prinzip. Dieses Versprechen beinhaltet ebenso oft Sprachpaare, für die sie keine Übersetzer oder Lektoren im Haus haben. Auf Übersetzer-Jobportalen werden von Agenturen daher regelmäßig auch Übersetzungslektorate angefragt. Aus meiner persönlichen Erfahrung kann ich berichten, dass die große Mehrzahl der Kunden auf zusätzliche Lektoratskosten verzichtet. Oft spielt auch Zeit eine Rolle. Nicht zuletzt vertrauen Kunden in die Kompetenz ihres Übersetzers. Ich sichere zum Beispiel zu, dass ich ohne Aufpreis mit zeitlichem Abstand selbst Korrektur lese. Crosby würde sich vermutlich im Grabe umdrehen – jeder Verfasser weiß, dass man Fehler in eigenen Texten viel eher übersieht als in Texten, die man vorher noch nie gesehen hat. Passenderweise war es gerade Anfang dieser Woche zum zweiten Mal in meiner Karriere so weit, dass ein Kunde Fehler reklamiert hat, auf die sein ausländischer Geschäftspartner aufmerksam geworden war. Ich habe mich über mich geärgert, mein Recht auf Nachbesserung genutzt, daraus gelernt und meinen Korrekturprozess angepasst.

Wird es wieder passieren, dass mir etwas durchrutscht oder ich einen blinden Tag habe? In meinen Augen wäre es höchst unprofessionell, zu behaupten, man wäre perfekt. Es geht immer besser. Kann ich danach streben, weniger als 2 Reklamationen in 4 Jahren zu erhalten? Mit Sicherheit. Könnten meine Kunden dazu beitragen, in dem sie ein Zweitlektorat bestellen? Natürlich. Und dann sind wir wieder beim magischen Dreieck von oben, und auch bei Crosby:

Qualität ist Übereinstimmung mit den Anforderungen

In Crosbys Definition Quality is conformance to requirements liegt der Hase im Pfeffer. Wenn der Kunde kein Budget für einen Zweitlektor vorsieht, gilt für ihn Crosbys “Null Fehler”-Maxime nicht, sondern er bestellt implizit eine Übersetzung “in der Qualität, die ein auf sich allein gestellter Sprachprofi vernünftigerweise zu leisten im Stande ist”. Leider sind sehr viele Kundenanforderungen an Übersetzungen häufiger implizit als explizit, das heißt häufiger angenommen als vereinbart. Werkstatt-Kunden verlangen selten, dass der Kfz-Mechaniker den Drehzahlsensor im rechten Vorderrad ersetzt. Sie wollen, dass die gelbe Warnleuchte aufhört zu leuchten und sie noch zwei Jahre TÜV kriegen. Das Auto soll einfach nur fahren – der Text soll einfach nur übersetzt werden.

Immerhin kommunizieren die meisten (nicht alle) Kunden von selbst, in welcher Sprache sie die Übersetzung benötigen. Das Fachgebiet geht oft, aber nicht immer, aus dem Text selbst hervor – gerade bei Excel-Tabellen mit Listen von Stichworten ohne Kontext ist das aber nicht selbstverständlich. Das ist problematisch, weil in zwei Fachgebieten dasselbe Worte zwei vollkommen verschiedene Dinge bezeichnen kann. Übersetzer müssen sich über eine ganze Reihe von zusätzlichen Faktoren Gedanken machen und sie gegebenenfalls beim Kunden erfragen. Andere, wie den Preis, geben sie vor oder verhandeln sie mit dem Kunden. Wieder andere, wie sprachliche und grammatische Richtigkeit, können tatsächlich vorausgesetzt werden.

Es gibt Ansätze, diese Fragen zu strukturieren: Alan K. Melby arbeitet mit der Translation Research Group der Brigham Young University auf ttt.org nicht nur am bekannten Translation-Memory-Exchange-Format (TMX), sondern auch an einer Structured Translation Specification (STS), die derzeit im freien Format für Übersetzungspakete Linport implementiert wird.

Zusammenfassend beschreibt die STS die Eigenschaften des Quelltextes (Sprache, Textsorte, Zielpublikum, Zweck, Fachgebiet, Terminologie, Umfang, Komplexität, Quelle), die gewünschten Eigenschaften des Zieltextes (Sprache, Terminologie, Zielpublikum, Zweck, Korrespondenz, Register, Dateiformat, Stilvorgaben, Layout), eventuelle Besonderheiten beim Übersetzungsprozess (Vorbereitung von Dateien, Terminologiearbeit, Maschinen-Vorübersetzung, Qualitätssicherung, Zusatzaufgaben wie Benutzertests oder Rückübersetzung) sowie weitere Anforderungen (zu verwendende Software oder Dateiformate, zu beachtendes Referenzmaterial, Übersetzung nur vor Ort beim Kunden, etc.) und vertragliche Regelungen (Urheberrechtsfragen, geforderte Qualifikation, Lieferumfang, Lieferart, Lieferfrist, Vergütung, Ansprechpartner und Kommunikationswege).

Wie gesagt: Die meisten dieser Auftragseigenschaften werden bei der Mehrzahl der Aufträge nie explizit festgehalten. Oft bleibt es bei Zielsprache und Preis. “Mängel” können daher aus unterschiedlichen Ansichten darüber entstehen, welche Eigenschaften bestellt wurden. Ich selbst frage meine Kunden mindestens nach der gewünschten Layouttreue (muss es genau so aussehen wie im Original, soll es anders aussehen oder benötigt der Kunde nur den Text an sich?) und verweise darauf, dass ich z.B. PDF-Dokumente normalerweise als DOCX liefere anstatt wiederum als PDF (Dateiformat). Gerade bei schwierigen Texten frage ich gerne nach bereits übersetzten Vorgängerversionen oder anderen Referenzdokumenten, die mir die Arbeit erleichtern. Wenn ich einen entsprechenden Verdacht hege, frage ich auch nach Zielpublikum und Zweck der Übersetzung, denn es macht einen Unterschied, ob sich z.B. eine Qualitätsbroschüre an Mitarbeiter oder an Kunden richtet.

Wäre es nicht sicherer, effizienter und zeitsparender, all diese Dinge vorher zu wissen, anstatt sie aus dem Text heraus-interpretieren zu müssen? Sicherlich. Würde es zu besseren und zielorientierteren Übersetzungen führen? Definitiv. Aber:

Hätten Sie als Kunde Zeit und Lust, vor jeder Übersetzung einen Fragebogen auszufüllen, selbst wenn er größtenteils aus Ankreuzkästchen bestünde?

Überraschen Sie mich mit einem „Ja“ in den Kommentaren. Denn Qualität ist Übereinstimmung mit den Anforderungen.

Ihr
Christopher Köbel
von DeFrEnT

Christopher Köbel (Portrait)
Christopher Köbel

Inhaber von DeFrEnT Christopher Köbel. Fachübersetzer für Deutsch, Französisch und Englisch für die Branchen IT, Web, Maschinen- und Anlagenbau, Kunststoffe, Industrie 4.0. Allgemein ermächtigter Übersetzer für Französisch und Englisch. Mitglied im Bundesverband der Dolmetscher und Übersetzer (BDÜ).

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