Ich habe früher schon einmal mein Info-PDF zur Standardseite/-zeile verlinkt. Dort findet sich auch eine kleine Anekdote, warum „nennen Sie doch mal vorab eine Hausnummer“ bei unbesehenen Texten eine schlechte Idee ist. Jetzt kam das Thema erneut um die Ecke, als ein Kunde mich fragte: „Ein anderes Büro rechnet pro Wort ab, wie kann ich das vergleichen?“
Wie werden Wort-/Zeilen-/Seitenpreise festgesetzt?
Die Berechnung von Übersetzungen ist ein merkwürdiges Sonderfeld, denn so ziemlich alle Dienstleister vom Anwalt über den Makler, den Designer oder anderen Kreativen bis hin zum Handwerker rechnen nach Stundensätzen ab. Auch die Wort- und Zeilenpreise fußen auf der Überlegung, wie viele Worte oder Zeilen man wohl durchschnittlich pro Stunde bewältigen kann, und auf dem Stundensatz, der wiederum aus den Kosten für Lebenshaltung, Sozialbeiträgen, Altersvorsorge, Büromaterial, PC, Spaß, etc. zusammen mit den produktiven Tagen pro Jahr berechnet wird (kostenorientierte Preisbestimmung). Naja, oder man hat’s nicht so mit Mathematik und guckt, was alle anderen so nehmen und nimmt das dann eben auch (konkurrenzorientierte Preisbestimmung) – eine Methode, die einen Unternehmer genauso schnell in die roten Zahlen bringen kann, wie die Methode, den Kunden bestimmen zu lassen, was er ausgeben will (nachfrageorientierte Preisbestimmung). Profis können Ihnen immer sagen, wie sie zu ihrem Preis gekommen sind und warum sie für den einen Auftrag mehr oder weniger haben wollen als für den anderen.
Woher kommen Zeilen und Worte?
Bei Übersetzern dachte/denkt „man“ im Allgemeinen immer zuerst an Literaturübersetzer, ein kleines, aber romantisch-verklärtes Feld innerhalb der Branche, welches mit den vielen Arten von industriellen oder „Business“-Übersetzungen kaum mithalten kann (was das Volumen angeht, natürlich!). Literaturübersetzer wurden historisch bedingt mit den Autoren in einen Topf geworfen, und die wiederum wurden von den Verlagen in Deutschland nach Schreibmaschinen-„Standardseiten“ (30 Zeilen à 55 Anschlägen sind 1.650 Anschläge, minus ein bisschen Weißraum, macht 1.500 Anschläge pro Seite, siehe Info-PDF) bezahlt. Irgendwann merkte dann jemand, dass Übersetzungen durchaus kürzer sein können als eine volle Seite, wenn es nicht um Bücher geht, und die Standardzeile (à 55 Anschläge inklusive Leerzeichen) war geboren.
In vielen anderen Ländern, insbesondere aber in Frankreich, Großbritannien und den USA, ging man einen anderen Weg, um das für die mächtigen Verlagskunden unangenehme und nicht im Vorhinein kalkulierbare Stundenhonorar auf eine objektive Einheit herunterzubrechen, auf die man die Autoren – bzw. Literaturübersetzer – festnageln konnte: Den Wortpreis. Vor der Entwicklung der PCs waren Worte, Zeilen oder Seiten leichter zu zählen als Zeichen/Anschläge, also zählte man beliebige Einheiten, um zu zahlen. Heute könnte man theoretisch auch zeichengenau abrechnen, denn der Computer zählt auch die kleinsten Einheiten zuverlässig – aber wer könnte mit „2,54 Cent pro Zeichen“ etwas anfangen?
Im Gegensatz zu der klaren deutschen Definition der Zeile (s.o.) kümmert es unsere internationalen Nachbarn weniger, dass die durchschnittliche Wortlänge in jeder Sprache unterschiedlich ist. Einer verbreiteten Ansicht nach sind im Deutschen Worte im Durchschnitt 7½ Zeichen lang, je nach Zählweise. Einzelne Worte können aber dank unserer tollen zusammengesetzten Hauptwörter deutlich länger werden („Aktionärsversammlungseinladung“), darauf weist auch der DVÜD-Artikel Wie ermittle ich die Textmenge hin: Wortpreise ergeben mehr Sinn für Sprachen, die keine Komposita bilden können. Im Englischen sind Worte laut Wolfram Alpha im Schnitt nur 5,1 Zeichen lang, im Französischen 5,3 Zeichen (in diesem Forum kommen mehrere französische Jungautoren auf um die 6 Zeichen pro Wort, wenn je 1 Leerzeichen mit berechnet wird). Allerdings kann das Verhältnis deutlich gravierender sein, wie das W3C feststellt: „Allgemein kann gesagt werden, dass Text normalerweise länger wird, und zwar je mehr, umso kürzer der Originaltext.“
Trotz allem gibt es immer wieder Übersetzerkollegen, besonders im Bereich Kreativtexte/Marketing, die mit ihren Kunden „ganz normale“ stundenbasierte Honorare vereinbaren. Sie können im Gegensatz zu Technik-Übersetzern, die relativ nah am Original bleiben, argumentieren, dass sie in der Regel nur die Inhalte, die Botschaft, die Emotion an ein neues Publikum vermitteln, das heißt, sie schreiben neue Texte, die mit den alten nicht direkt vergleichbar sind. Das erfordert oft ausgiebige Recherchen und einen Kreativprozess, der sehr kurz oder sehr lange dauern kann, bis die zündende Idee kommt, die aus der „Transcreation“ einen überzeugenden Text macht. Andererseits: Auch bei technischen Übersetzungen, bei denen es auf fachliche Richtigkeit ankommt, sind immer wieder Recherchen notwendig. Und für den Kunden läge der Vorteil darin, dass er Stundensätze von all seinen anderen Zulieferern gewohnt ist, den Übersetzer also leichter preislich einschätzen kann.
Wie kann ich das vergleichen?
Die deutsche Durchschnittswortlänge ist praktisch, denn man kann bei 7,5 Zeichen pro Wort und 55 Zeichen pro Zeile recht einfach 7 Worte pro Zeile (7×7,5=52,5) annehmen, wenn man grob umrechnen will. Auch die englischen und französischen Wortlängen von 5,1 und 5,3 Zeichen pro Wort können einfach grob umgerechnet werden, denn damit passen 11 Worte bzw. 10 Worte in eine Zeile (5,1×11=56,1 und 5,3×10=53). Genau sind die Faktoren ×7,3 (DE), ×10,78 (EN) und ×10,38 (FR).
An diesem Punkt wird für Kunden auch wichtig, ob der jeweilige Übersetzer nach Quelltext (also dem zu übersetzenden Original) oder nach Zieltext (also nach der produzierten Übersetzung) abrechnet. Praktischer ist aus meiner Sicht und aus der Sicht vieler Kunden die Abrechnung nach Quelltext: Der Übersetzer zählt den Text aus und kann sofort ein verbindliches Angebot erstellen. Viele Kollegen finden die Berechnung nach Zieltext aber gerechter, denn dann wird entlohnt, was der Übersetzer geleistet hat, nicht, was der Kunde ihm bringt. In diesem Fall kann aber vorher nur eine Schätzung erfolgen, wie viel der Spaß am Ende kosten wird. Üblicherweise werden Übersetzungen zusätzlich zur Wortlängenproblematik um bis zu 15% länger als das Original, zum Beispiel, weil es bestimmte Begriffe nicht mit genau derselben Bedeutung in der anderen Sprache gibt, sodass man manches umschreiben, anders ausdrücken oder mit einem erklärenden Kommentar versehen muss. Das heißt, dass je nach Sprachrichtung und Berechnungsmodus die Zeilen-/Wortpreise günstiger oder teurer erscheinen können, auch wenn ihnen derselbe Stundensatz zu Grund liegt.
Sind Sie jetzt klüger als zuvor, oder noch verwirrter? Würden Sie bei Übersetzungen ein Honorar nach Stunden statt der komischen Spezialmaße gut finden? Ich freue mich über Ihre Kommentare!
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